1.10.24

Die kleine Bank

 



 

Da steht sie nun. Ein Bild der Einsamkeit. Verlassen. Unbeachtet. Das Jahr ist über sie hinweggegangen, mit Sturm und Regen, brennend heißer Sonne und eisiger Kälte. Aber sie hielt alles aus, widerstandsfähig bis zum heutigen Tag.
Wie war es noch im letzten Frühling? Als die Birken das erste Grün trugen, als der Wacholder die braunen alten Zweige abstieß, als der Eichelhäher hoch in den Bäumen lachte und die Lerche jubelnd in den Himmel stieg, da war diese Bank nicht leer. 

       Siehst du dort den Jungen und das Mädchen sitzen? Sie fühlen den Frühling in ihrem Blut. Unbewusst starten sie den Kreislauf des Lebens wieder aufs Neue. Sie schwören sich ewige Liebe und Treue und wissen doch nicht, dass nichts in der Jugend brüchiger ist als die Treue. Und dass das Rot der Liebe sich sehr schnell zu einem Grau verfärbt, dass von den Schwüren im Frühling meist nicht mehr übrig bleibt als verdorrtes Gras im Sommer.

O! zarte Sehnsucht, süßes Hoffen,
Der ersten Liebe goldne Zeit,
Das Auge sieht den Himmel offen,
Es schwelgt das Herz in Seligkeit.
O! dass sie ewig grünen bliebe,
Die schöne Zeit der jungen Liebe!

 

So sagt Schiller im »Lied von der Glocke« Aber auch der Dichter wusste, dass es so einfach nicht ist. Sonst hätte er nicht bewusst das Wörtchen “ewig bliebe” benutzt. Ja, und dann ging der Sommer über die Heide, der Herbst nahte. Die Erika blühte und die alte Bank stand inmitten einer wunderschönen violetten Pracht! Die Menschen, die kamen, erfreuten sich an diesen herrlichen Farben. So manch einer ruhte sich nach einer anstrengenden Wanderung hier auf der Bank aus und nahm auch etwas Nahrung für die Seele mit nach Hause.

       Wirf jetzt noch einen Blick auf dieses alte Paar, das dort schon einige Zeit auf der Bank sitzt. Beide im weißen Haar, mit faltiger Haut und längst nicht mehr taufrischem Aussehen. Erfahrene Menschen, mit vielen Narben an Leib und Seele. Sie ahnen nicht mehr die Schönheit des Lebens, sie kennen sie! Sie verstehen die Geheimnisse der Gefühle und brauchen keine Liebesschwüre mehr, die den Jungen vorbehalten sind. Aber sie haben die Liebe begriffen, die Nähe, das Vertrauen.  

       Und wenn sie nun dort sitzen und in den Sonnenuntergang schauen, dann ist ihnen klar, dass es immer einen Anfang gegeben hat und dass es auch ein Ende gibt!  Siehst du sie dort sitzen, Hand in Hand, auf dieser einsamen Bank in Eis und Schnee? Siehst du diese liebevollen Blicke? Spürst du ebenfalls dieses Geheimnis, dann bist du auf der richtigen Spur des Lebens. Dann weißt du, dass Gott alles in den Händen hat: den Frühling des Lebens und den Sommer und den Herbst. Und den Winter ebenfalls. Und mich. Und dich, nicht nur im Frühling ...

Und zum Schluss noch einmal ein Zitat aus der «Glocke»:

Dem Schicksal leihe sie die Zunge,
Selbst herzlos, ohne Mitgefühl,
Begleite sie mit ihrem Schwunge
Des Lebens wechselvolles Spiel.
Und wie der Klang im Ohr vergehet,
Der mächtig tönend ihr erschallt,
So lehre sie, dass nichts bestehet,
Dass alles Irdische verhallt.


Die kleine Bank

    Da steht sie nun. Ein Bild der Einsamkeit. Verlassen. Unbeachtet. Das Jahr ist über sie hinweggegangen, mit Sturm und Regen, brennend ...