Die Sonne geht drüben hinter dem Wald auf, sie verziert mit einem hellen karminroten Schimmer die alten Fachwerkhäuser der Straße. Lichtgrüne Birken am Straßenrand wedeln sich im sanften morgendlichen Wind gegenseitige Grüße zu. Eine Amsel schmettert ohne Unterlass ihr morgendliches Lied in die Luft, von irgendwoher antwortet ein anderer schwarzberockter Amselmann.
In der Fußgängerzone sind auch schon die ersten Passanten unterwegs. Die meisten von ihnen schauen dabei nicht auf die Farben des Sonnenaufgangs, hören auch nicht auf die Töne der Amsel. Sie sind wahrscheinlich zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um diese wunderbaren Einzelheiten eines Morgens aufzunehmen.
Sicher ist dies ein Bild, schon so oft gesehen, dass es niemand mehr reizt, besonders nicht in diesen morgendlichen Stunden. Vielleicht sind sie auch noch in Gedanken bei den Träumen ihrer Nacht?
Ein Herr im grauen Flanellanzug tritt aus einer Tür auf die Straße, schaut nach links und rechts, nimmt dann seinen hellbraunen Aktenkoffer und schreitet gemessenen Schrittes die Straße hinunter. Wer mag er sein? Ich denke mir, dass er der Besitzer eines Ladens in der Einkaufspassage dort an der Brücke des kleinen Flusses sein mag, der nun seinen Tagesablauf beginnt.
Die Fußgängerzone der Straße füllt sich allmählich. Das Café dort an der Ecke hat seine Pforten bereits geöffnet, eine Kellnerin macht die Tische auf der kleinen Terrasse für die kommenden Gäste bereit. Die rot-weiss gewürfelten Tischdecken bilden einen angenehmen Kontrast zu dem Grau der Platten des Gehwegs.
Ich suche mir einen Platz an einem der Tische, die Sonnenstrahlen verbreiten ein angenehmes Gefühl auf der kleinen Terrasse vor dem Café. Die freundliche Kellnerin kommt, fragt nach meinen Wünschen und bald darauf genieße ich meinen Cappuccino. Ich fühle mich so richtig gut und zufrieden, lasse den Tag an mich herantreten; alle Problemchen sind irgendwo weit hinter mir geblieben.
Ich schaue dann auf den gegenüberliegenden Marktplatz und sehe mit Erstaunen den Gegenpol zu diesem Mädchen am Nebentisch. Eine alte Frau, weißhaarig und ärmlich gekleidet, mit zwei Plastiktüten in der Hand, sucht in den Papierkörben der Umgebung nach leeren Flaschen. Hastig lässt sie ihre Fundstücke in den Tüten verschwinden, schaut angestrengt nach allen Seiten und setzt sich dann auf den Rand des alten Brunnens, der den Marktplatz ziert.
Ich fühle mich auf einmal gar nicht mehr so wohl in meiner Haut, sehe diese divergierenden Gegensätze hautnah neben mir. Warum habe ich ein Gefühl in mir, als wäre ich schuld an diesem Notstand, der so offensichtlich zutage tritt?
Langsamen Schrittes gehe ich, ohne mich noch einmal umzuwenden, zu diesem Brunnen am Markt. Dort sitzt sie immer noch, in Gedanken versunken, die alte Dame und schaut in den fließenden Strudel des Wassers. Aus meiner Geldbörse nehme ich einen größeren Schein, falte ihn ganz klein zusammen und lege ihn der Frau in den Schoss. Mit einer fast versagenden, heiseren Stimme flüstere ich dabei: »Mehr Flaschen habe ich leider nicht!«
Sie sieht mich mit einem langen Blick aus ihren hellblauen Augen an und entgegnet mir, kaum verständlich: »Möge Gott sie beschützen ...«