12.5.24

Treffen

 







Gestern traf ich ihn. Zum allerersten Mal. Noch nie hatte ich ihn vorher jemals gesehen, wie sollte ich auch? Ich kannte niemand, der ihn hätte beschreiben können, ich wüsste auch nicht, wer ihn jemals beschrieben hätte. Es sei denn, die Fantasie könnte ein völlig überzeichnetes Bild von ihm in die Welt setzen.

       Dennoch erkannte ich ihn sofort. Woran ich es festmachen konnte, ist mir bis heute nicht eingefallen. Vielleicht waren es die Blicke, die mich in einer intensiven Weise beeindruckten? Solch einen markanten Augenausdruck sah ich noch niemals in meiner  langen Lebenszeit.

       »Hallo«! Eine ausdrucksvoll klingende Baritonstimme verwandelte die Abendstunden in Erlebnisse besonderer Art. Goethes Worte in »Wanderers Nachtlied«, von Franz Schubert vertont, klang leise durch die blaue Nähe. »Hallo!«, Wie kann solch ein Wort klingen als traumhaft?

       Dann stand er vor mir, sagte ganz einfach nur »Hallo!«. Ich blieb einen Moment unruhig stehen und zweifelte ob er es war oder nur eine seltsame ähnliche Erscheinung. Ich überwand meine Scheu, fragte wer er sei und was er hier wollte. Erstaunt schaute er mich daraufhin an; es waren Blicke die bis das Innerste meiner Seele reichten. Ich war verwirrt, wollte noch etwas sagen und konnte es einfach nicht. Ganz sacht schüttelte er seinen Kopf, blickte mich dabei unentwegt an!

       Dann geschah es. Ich verstand plötzlich! Ja! Es war, als öffnete sich dabei ein Fenster der großen Unendlichkeit. Wozu war noch weiteres Wissen nötig? Alles war erklärt, in der Endlosigkeit der himmlischen Weite blieb nichts mehr offen für eine Erklärung. Mir blieb nichts mehr zu tun, als mich zu verabschieden, ich ließ ihn einfach gehen. Warum? Es gibt nichts, was ein Mensch sich selbst sagen kann, was er nicht schon vorher wissen könnte.

 

10.5.24

Recht haben, oder doch nicht?

 


 


In jungen Jahren war ich fest davon überzeugt, immer Recht zu haben. Es war sozusagen meine zweite Natur, und ich fühlte mich wohl in dieser Rolle. Heute weiß ich es besser und es freut mich tatsächlich, zugeben zu können, nicht immer Recht zu haben!

Es ist gar nicht so einfach, diese Erkenntnis zu akzeptieren, das steht fest. Ich beanspruche nicht mehr, immer Recht zu haben. Ich zweifle an dem, was ich glaube, und bin mir meiner eigenen Ideen nicht immer sicher. Ich bin auch bereit, mich überzeugen zu lassen.

Es geht nicht darum, Recht oder Unrecht zu haben, es geht nicht um Stolz oder darum, zu sehen, wer am längeren Hebel sitzt, obwohl manche Menschen nur darauf aus sind, über anderen zu stehen.

Und um dieses Ziel zu erreichen, greifen sie sogar zu kindischen Mitteln. Strategien wie lautes Schreien oder das Verspotten von Personen, die anderer Meinung sind, scheinen für manche das Nonplusultra zu sein!

Ich habe kein Problem damit, jemandem zuzustimmen, der solche Methoden schätzt, wenn es ihn glücklich macht, auch wenn er später nicht weiss, wohin damit. Es kostet nichts, einem Narren zu gefallen und so zu vermeiden, in einem sinnlosen Streit verwickelt zu werden.

Es bringt nichts, ständig Recht zu haben, es ist ein dummer Fetisch, den manche wie Trophäen aus einem Machtkampf tragen, und ihn zu leugnen ist, als würde man einem Kind Süssigkeiten wegnehmen. Niemand muss mir beweisen, wenn ich Recht habe, ich misstraue denen, die es versuchen. Ich bevorzuge ein gutes Gegenargument, das mich zum Nachdenken anregt, anstatt herablassende Unterstützung.

Seit ich mir keine Gedanken mehr darüber mache, ob ich Recht habe, ist mir klar geworden, dass ich viel glücklicher bin! Ich bin nicht mehr verunsichert, wenn andere anders denken als ich, und ich bin auch nicht frustriert, wenn sie das Offensichtliche nicht erkennen können. Ich bin zufrieden damit, zu tun, was ich für richtig halte, auch wenn ich manchmal Unrecht habe. Obwohl ich mich dabei natürlich auch irren könnte, oder?

 

9.5.24

News oder tägliche Nachrichten

 

















 

Wer weiß es nicht - die Liste der instabilen Länder auf unserer Erde ist lang;  

Ägypten, Afghanistan, Nordkorea, Israel, Iran, Irak, Katar, Palästina, Pakistan, Russland, Saudi-Arabien, Ukraine, Sudan,Taiwan, Kolumbien, Venezuela.

Meine Erinnerung reicht nicht aus, um alle aufzuzählen. Es ist nur eine grobe Skizze der Weltkarte, auf der alle fragilen Länder in roter Farbe markiert sind. Die Welt scheint zu brodeln, als stünde sie in Flammen. Die Köche, die das Menü vorbereiten, wählen sorgfältig die Zutaten aus, um die Geschmäcker ihrer Zwangsgäste zu befriedigen.

Beim Lesen der Zeitung habe ich das Gefühl, dass der Globus in einem Schnellkochtopf auf dem Herd steht und die Temperatur kontinuierlich steigt.

Von den 195 Ländern auf der Erde sind nur 66 Demokratien - kaum zu glauben, nicht wahr? Aber dennoch wahre Tatsache.

Hier bei uns läuft noch alles relativ normal, oder? Die Geburtenrate in Deutschland erreicht zwar ein historisches Tief, nun, das ist ein Fakt, der zum Nachdenken anregt. Aber die Schlagzeilen in den Medien: Das sind die täglichen Schreckensnachrichten aus den unzähligen Kriegsgebieten und dem üblichen nationalen parteipolitischen Gerangel.

Manchmal erinnere ich mich vage an die 80er Jahre, an den Kalten Krieg - ist das die Zukunft? Es fehlt mir sogar die Lust zu lächeln. Die Menschheit ist eine ständige Bedrohung für sich selbst, aber auch ihre einzige Hoffnung.

Gott wird hier nicht erwähnt, obwohl er aus einer bestimmten Perspektive bestimmt sehr vermisst wird.

 

 

7.5.24

8.Mai 1945 und die weiteren Tage

 


 










Flüchtlinge - Elend und Verzweiflung unserer Zeiten! Zu allen Zeiten wurden die Menschen durch Ereignisse wie Krieg, Hungersnöte oder Wetterkatastrophen aus ihrer Heimat, ihrem angestammten Wohnsitz vertrieben. Das war schon in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges so. und später in den zahllosen Kriegen, die diese Menschheit über sich selbst brachte.

       So war es auch zu jener Zeit, 1945, als die grösste Katastrophe unseres Landes beendet werden konnte. Wenige Wochen vorher wurden noch Tausende von Zivilisten durch anglo-amerikanische Fliegerangriffe getötet! Es ist keine Erfindung der Neuzeit!
Ich erinnere mich an diese Zeit vor genau 79 Jahren so, als wäre es gestern gewesen!

Vergessen lassen solche dramatischen Zustände sich wahrscheinlich niemals. Damals strömten 14 Millionen »Rucksackdeutsche, Polacken und verlaustes Gesindel« aus den abgetrennten deutschen Gebieten in den Rest des Landes. Diese Menschen wurden im Westen zwar aufgenommen, aber niemals wirklich willkommen geheissen. Viele hätten sie am liebsten sofort zurückgeschickt.

       Im Jahr 1945 mussten auch wir unsere Heimat verlassen, nicht aus freien Stücken, und nur mit dem Nötigsten im Gepäck. Meine kleine Familie hatte nur das, was sie am Leib trug, dazu drei Löffel, ein Handtuch und ein Stück Seife. Das war der bescheidene Beginn eines neuen Lebens, das heute oft als "Neuanfang" bezeichnet wird.

      Leider herrscht immer noch weitgehende Unkenntnis über die Bedeutung und das Ausmass dessen, was sich nach 1945 ereignet hat. Es fehlt auch das Bewusstsein dafür, welchen Platz diese Erfahrungen in unserem kollektiven Gedächtnis einnehmen sollten.       Man fragt sich manchmal, wo die Erlebnisse der Menschen von damals geblieben sind. Finden sie Eingang in Schulbücher? Vielleicht in Romanen, geschrieben von Menschen, die die damaligen Dramen nur vom Hörensagen kennen? Doch all das kann nur eine oberflächliche Darstellung dessen sein, was damals wirklich geschah. Ignoranz und Feindseligkeit waren nur ein Teil des Leids, dem die Heimatvertriebenen und Flüchtlinge damals ausgesetzt waren. Woher kam diese Ablehnung?

   Die Gesellschaft der Nachkriegszeit war eine »Zusammenbruchgesellschaft«. Das Einzige, was die Menschen einte, war die Erfahrung einer totalen Niederlage. Die Bereitschaft, denen zu helfen, denen es noch schlechter ging, war daher sehr gering. Nicht zu vergessen, dass zwölf Jahre Nazi-Propaganda ihre Spuren hinterlassen hatten. Die Menschen waren immer wieder mit dem Negativbild des »slawischen Untermenschen« aus dem Osten konfrontiert worden.

    Diese Vorstellungen verschwanden ja nicht einfach nach Kriegsende! Im Jahr 1946 äusserte der Landrat von Flensburg: »Der Niederdeutsche sei gegen die Mulattenzucht, die der Ostpreusse nun einmal im Völkergemisch betrieben hat.«

       Es ist offensichtlich, dass die Flüchtlinge auch nach dem Zweiten Weltkrieg Opfer der Naziideologie wurden. Es herrschte zweifellos ein handfester Rassismus! Die Aufnahme der Flüchtlinge verlief nirgendwo reibungslos, selbst wenn es sich um Deutsche handelte. Für die Einheimischen fühlte es sich gefühlsmässig wirklich anders an.

       Die Flüchtlinge und Vertriebenen kamen oft aus Lagern, hatten Gewalt erlebt und waren in einem erbärmlichen Zustand, als sie ankamen. Damit entsprachen sie vielfach dem Klischee, das der einheimischen Bevölkerung früher vermittelt worden war. Fremdenfeindlichkeit war definitiv vorhanden.

     Erinnert uns das nicht an viele Ereignisse jüngerer Vergangenheit? Zum Beispiel ein Herr Fischbacher, Mitbegründer der Bayern-Partei, der Ostermontag 1947 in Traunstein erklärte: »Flüchtlinge müssen hinausgeworfen werden, und die Bauern müssen dabei tatkräftig mithelfen.« Er bezeichnete es als »Blutschande«, wenn ein »Bauernsohn eine norddeutsche Blondine heiratet«!

     Solche hässlichen Äusserungen fanden sich auch in der Redaktion des »Spiegels«, dessen erste Ausgabe gerade erschienen war. Leider blieb diese Hassrede kein Einzelfall. Landtagspräsident Michael Horlacher, Mitbegründer der CSU, betonte, dass Bayern den Bayern gehören müsse. Andreas Schachner von der Bayernpartei beschwerte sich darüber, dass sich so viele Fremde an den bayerischen Futterkrippen bedienten, »dass Pogrome nötig wären, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen«.

       Es mag so aussehen, als würde ich hier nur negative Beispiele anführen wollen, aber mein Ziel ist es, zu verdeutlichen, dass Rassismus und Fremdenfeindlichkeit nicht nur ein Phänomen unserer Zeit sind, sondern schon immer präsent waren. Unsere »Geschwister« aus den neuen Bundesländern wissen davon ein Lied zu singen. Zum Glück ist es heute nicht mehr so offensichtlich wie 1945, als Schilder mit der Aufschrift »Flüchtlinge unerwünscht« an den Strassen standen.

Es ist nun mal so: »Willkommen« gilt immer nur für eine relativ kurze Zeit, dann schlägt die Stimmung oft genau in die entgegengesetzte Richtung um.

 

6.5.24

Der Fremde

 

Eine Kurzgeschichte von H.C.G.Lux

 










»Guten Abend!« Richard schreckt aus seinen Gedanken auf, hatte sich doch regelrecht in diesen regnerischen dunklen Abend verkrochen und wartete auf das Ende dieser nassen Tagesepisode. Die sonore Stimme eines Mannes reisst ihn urplötzlich aus seinem Wachtraum. Wie? Was? Woher kam der Mann plötzlich? Meint er etwa ihn? Er schaut mit seinen dunklen Augen prüfend zu ihm herüber. Sein auffallend eleganter Mantel passt irgendwie nicht in diese Straße, gehört einfach nicht in diese graue Welt, deren Farben der Sonnenuntergang mit sich genommen hat. 

   Er schaut zu dem Fremden hinüber, der auch unter dem kleinen Vorbau des Hauses Schutz vor dem Regen gesucht hat. Nickt ihm dann zu, stumm und fast regungslos,

  Ein blauer Linienbus schleicht fast unhörbar heran und bleibt in der Haltebucht stehen, misstrauisch blickt der Fahrer durch die schmutzverschmierten Scheiben herüber. Niemand steigt aus. Mit leisem Surren fährt der Elektrobus wieder an. Der Fremde hat sich inzwischen in die überdachte Eingangstür der Herrenboutique gestellt. Durch das Eck-Schaufenster erkennt Richie, dass er seinen Mantelkragen hochstellt. Wartet der nun auf einen anderen Bus?

  Währenddessen prasselt der Regen unaufhörlich auf das Pflaster des Gehwegs, spritzt an den Hauswänden hoch und überzieht staubgepaart das Ganze mit einem Schleier. Richie drückt sich dicht an das Schaufenster dieses Ladens, der schmale Überstand gibt ihm wenig Schutz, kann auch nicht verhindern, dass Schuhe und Hose triefend nass sind. Seine Blicke verlieren sich im dichten Grau des nächtlichen Regens, Laternen spiegeln sich im Nass der Straße, der Regen wirft winzig kleine Fontänen vom Asphalt zurück.

  Fröstelnd versucht er sich in seine dünne Jacke zu verkriechen. Unangenehm, dieses nasse und kalte Märzwetter. Besonders für einen Menschen, der kein Zuhause hat und nicht weiß, wo er diese Nacht verbringen soll. Todmüde, könnte er vor Müdigkeit umfallen.

    »Kommt der 32er noch?« Der Fremde schreit die Worte fast zu ihm herüber. Richie fährt zusammen, hatte den Mann schon nicht mehr beachtet. Zuckt dann mit den Achseln; er weiß noch nicht einmal, ob dieses unsichere Zeichen in dem Zwielicht überhaupt sichtbar ist.

       Er überlegt. Der 32er Linienbus? Der fährt hier überhaupt nicht, hat hier in diesem Stadtteil nie gefahren, ja, er weiß mit Gewissheit, dass es in der ganzen Stadt überhaupt keine 32er Linie gibt! Schon sehr seltsam. Der Mann im Trenchcoat schaut auf seine Armbanduhr.

     Richies Blick wird starr. Wie er erkennen kann, ist da gar keine Uhr, der blickt nur auf seinen Unterarm! »Ist schon fast Mitternacht«, meint der Mann danach, »wo bleibt denn nur der Bus?« Da Ritchie den Fremden nun doch etwas intensiver ansieht, erkennt er, dass der doch nicht so jung ist, wie er vorher schien! Ihm fällt ein steinaltes Gesicht auf, mit modernem Hut, eingerahmt von Schal und dem modernen Trenchcoat. Wieso hatte er diese ledernen Falten seines Antlitzes vorhin nicht bemerkt?

    Der Mann schaut ihn nun voll an. Seinem Blick auszuweichen scheint fast unmöglich. Ein Schauer läuft Richie über den ganzen Körper; trotz der unangenehmen Kälte des Abends wird ihm unwirklich heiß! Was geschieht hier? Woher kommt dieses Gefühl unangenehmer Vertrautheit zu diesem Menschen? Er bemüht sich, in eine andere Richtung zu sehen, rollt seinen Kopf hin und her, um einer Verspannung der Halsmuskeln vorzubeugen. Irgendwo bellt aufgeregt ein Hund. Er mag es nicht, wenn Hunde nachts bellen. 

    »Haben Sie Feuer?« fragt der Mann. Hat nun ein Zigarettenetui in der Hand, lässt es einladend aufspringen. »Nein«! Die Stimme Richards klingt rau, bleibt fast im Halse stecken, »bin Nichtraucher.« Es sind seine ersten Worte, die heute Abend aus seinem Munde kommen. »Naja, ist ja auch gesünder«, meint der Andere dann mit einem kurzen Blick zu ihm, dann lacht er trocken auf, lässt das Etui wieder verschwinden, schaut wieder auf seine nicht vorhandene Armbanduhr!

  Der Regen fällt mit einer Intensität, wie Richie es lange nicht mehr erlebt hat, es erscheint jedenfalls so. Ihm ist elend zu Mute, er friert, ist durchnässt, todmüde und möchte eigentlich schlafen, unentwegt nur schlafen. Angestrengt überlegt er, wo er einigermaßen trocken unterschlüpfen könnte, ihm fällt ein, dass hier irgendwo in dieser Gegend eine Kleingartenkolonie sein müsste. Da könnte sich doch ein geschütztes Plätzchen finden lassen? Aber bis dorthin wäre er total durchnässt, wie zum Teufel, trocknet das dann wieder?

  Richie schaut den Mann gegenüber an. Der hat es gut, irgendwo steht für ihn ein warmes Bett, eine schmackhafte Mahlzeit, vielleicht ein Mensch, der sich Sorgen macht, der auf ihn wartet. Und wieder fragt er sich, was dieser Mann hier treibt. Warum er hier in dieser kalten regnerischen Nacht an einer Bushaltestelle steht und auf einen Bus wartet, der hier gar nicht fährt? »Kann ich Ihnen behilflich sein?«  Richie schreckt aus seinen Gedanken auf, sieht den Frager verständnislos an. »Es sieht so aus, als wenn Sie meine Hilfe brauchen«, meint der Fremde dann, »ich kann sicher etwas für Sie tun!«

    »Für mich tun? Sie?« Er ringt sich ein kurzes Lachen ab. Ein bitteres Lachen, tief aus der Seele heraus, aus einem Untergrund, der verschüttet ist. »Ganz gewiss nicht Sie! Sie sollten mich in Ruhe lassen.«

    Indem er sich um die Ecke des Schaufensters beugt, schaut der Mann ihn prüfend an, sagt er dann eindringlich: »Da bin ich mir nicht so sicher! Meine Möglichkeiten sind unendlich - und meine Beziehungen reichen sehr weit!«

    








Er zieht eine Visitenkarte aus seiner Manteltasche und reicht sie dem jungen Mann mit gestrecktem Arm herüber. Mit klammen Fingern ergreift der die Karte, versucht im Halblicht der Schaufensterbeleuchtung den Namen zu entziffern: 

»Lucas- Beratungsdienste«, steht dort, dann noch: »Your time is limited!«¹

      Das steht dort in silbernen Schriftzügen. Beratungsdienst? Welcher Art - was ist das? Ein Service, der sich nachts an Bushaltestellen herumtreibt und vagabundierende Menschen anspricht? Der auf ihn, auf den Gesichtslosen, den vom Leben Geprügelten wartet?

  Der Regen prasselt weiter auf das Pflaster der Straße. »Trotzdem werde ich jetzt fortgehen«, denkt Richie, »Die Sache nimmt beklemmende Ausmaße an. Ich habe es nicht so gern, wenn ich eine Sachlage nicht überschauen kann, das schafft in mir stets ein ungutes Gefühl, erzeugt einen Ring um die Brust, der mir den Atem nimmt«.

    Als ahne der Fremde seine Gedanken, lächelt er ihn in einer Weise an, die Richie richtiggehend aggressiv macht, als er ihm dann noch einladend zunickt und dies noch mit einer Bewegung seiner Hände unterstreicht, explodiert er! Mit unnatürlich lauten Worten, die aus seinem tiefsten Inneren hervorbrechen, versucht er ihm klarzumachen, dass er seine wie auch immer geartete Hilfe nicht haben will: »Las-sen- Sie -mich- in- Ru-he! Ich- brau-che- Sie- nicht!« Darauf antwortet der Andere nicht mehr.

  Richie schlägt seine durchnässte Jacke enger um sich, ergreift den am Boden stehenden feuchten Rucksack und rennt wie gehetzt über die Straße. Kein Blick mehr zurück, nein, der soll nicht denken, dass er Furcht vor ihm hätte. Er hat keine Angst, er hat bestimmt keine Angst, wäre auch stark genug gewesen, um es mit ihm aufzunehmen! Der Fremde ruft Richie etwas hinterher, es klingt ähnlich wie:  »Your time is limited!«
    Der Regen peitscht Richard ins Gesicht, und weil er mit diesen Auswirkungen des Unwetters zu kämpfen hat, nimmt er ihm auch noch das Denken ab. Er hat vollauf damit zu tun, die böigen Wassergüsse von seinem Gesicht fernzuhalten. Nachdem er in der Dunkelheit mitten in eine gewaltige Pfütze tritt, steht er urplötzlich vor dem Tor der Kleingartenanlage. Glücklicherweise ist es nicht verschlossen.

    In der Dunkelheit tastet er sich an der Hecke des Wegs entlang, findet ein niedriges Gartentor und klettert mühsam darüber hinweg, irgendwelche Steinplatten weisen den Weg zu einer Laube im hinteren Teil des Gartens. Es riecht stark nach Zwiebeln, nach reifem Grünkohl und nach feuchter Erde.

     Die Gartenlaube erscheint ihm größer, als sie von weitem schien. Die beiden vorderen Fenster sind mit Läden gesichert, zur dazwischen liegenden Tür führen zwei Stufen hinauf, vorsichtig betritt er diese nassen, schlüpfrigen Holzbohlen. Tastet sich dann vorwärts und ist dann bass erstaunt! Die Tür ist nicht verschlossen! Die Tür zur Laube ist nur angelehnt, das war sicher nicht zu erwarten, ganz gewiss nicht.

     Richie hatte vor, sich unter dem Vorbau ein wenig vor dem Regen zu schützen. Nun aber kann er doch bis zum Morgen ein wenig Trockenheit genießen. Ein winziges Stückchen Glücksgefühl durchströmt sein Herz. Wie wenig ist doch zum Glück nötig, wenn man am Rande der Gesellschaft lebt!

    Mit einem beglückenden Gefühl betritt er den dunklen Raum der Gartenlaube, schließt die Tür hinter sich, um etwas Wärme zu spüren. Er sieht fast nichts, tastet sich weiter in den Raum hinein. Stösst an einen Stuhl, der polternd umfällt, dann ertastet er einen runden Gartentisch, legt seinen Rucksack ab, hebt den umgestürzten Stuhl auf und lässt sich mit einem tiefen Seufzer nieder. Springt im gleichen Augenblick wieder auf, als eine bekannte Stimme im Hintergrund sagt:

»Hallo, your time is limited!«

 (¹Deine Zeit ist begrenzt....)

3.5.24

»Brot und Spiele«

 















Als der römische Satiriker Juvenal vor 2000 Jahren den bekannten Satz »panem et circenses« unter die Leute brachte, war das Leben für den Großteil der Bevölkerung anscheinend so langweilig geworden, dass man ständig neue Abwechslungen brauchte. Nicht jeder hatte Arbeit, die meisten Tätigkeiten wurden ja von Sklaven erledigt, was also tat der römische Adel den ganzen Tag?

     Man begann unter anderem über den Sinn des Lebens nachzudenken, zu philosophieren! Auch über den Staat, über seine Lenker, die Götter, und die Notwendigkeit des Lebens an sich. Die Werke etlicher großer Philosophen wie Seneca und Cicero im 1.Jh.n.Chr. geben bis heute noch Zeugnis ihres Wirkens an uns ab.

      Das gemeine Volk allerdings musste beschäftigt werden, und so waren die »circenses« das probate Mittel, um das Volk bei Laune zu halten. Gladiatorenkämpfe spielten eine große Rolle in diesen Cirquen, Kämpfe untereinander oder auch gegen wilde Tiere waren beim Plebs beliebt, die Hauptsache war, man konnte etwas sehen, miterleben, das die Nerven aufpeitschte! Wie heute auch!

      Juvenal, der Satiriker, brachte es damals mit aller Deutlichkeit genau auf den Punkt: "qui dabat olim // imperium, fasces, legiones, omnia, nunc se // continet atque duas tantum res anxius optat, // panem et circenses."
(Einst bestimmte es (das römische Volk) über alles, die Herrschaft, die Ämter und die Legionen. Doch nun wünscht sich das Volk, um zufrieden zu sein, nur noch zwei Dinge: Brot und Spiele.)

    Wie sich die Bilder 2000 Jahre später doch gleichen. Nichts ist unseren Bürgern wichtiger als eine Fußball-WM, nichts reizt den Nerv mehr als ein Formel-1 Rennen oder die olympischen Spiele. Die Medien hätten ohne diese Events weniger zu bieten.

     Ergo: Die Gladiatoren von heute sind nichts anderes als die damaligen. Der Unterschied liegt nur in den Verdienstmöglichkeiten! Seinerzeit lockte als Hauptgewinn sozusagen die Freiheit von der Sklaverei. Heute sind es die Millionen Euro oder Dollar, die unsere Gladiatoren in die Abhängigkeit von »Sport-Aktiengesellschaften« bringen - anstelle von Gladiatoren-Schulen - und sie reißen sich darum, dort auch mitzumischen!

 "Difficile est saturam non scribere" meinte Juvenal in einer weiteren Satire. (Da fällt es schwer, keine Satire zu schreiben)

     Nun, liebe Freunde, die nächsten Spiele sind schon wieder angesagt: 
Nächste Fussball-EM in Germany, vielleicht mal ausnahmsweise etwas Normales? 
Olympia mit riesigem Tam-Tam in Paris. 
Winter-Olympiade 2050 gar in Antarctica? Würde sich ja anbieten. 
CocaCola bewirbt sich bestimmt schon um die Banditen-Werbung! 
(Verzeihung, ich meinte natürlich BANDEN-Werbung.)
    Na, ich schliesse lieber meinen Sermon, sonst werde ich noch nach alter Sitte verbannt ...

 

1.5.24

Nun ist er da!

 


 













Wer? Natürlich der Mai. Mit wundervollem Wetter, Frühlingsduft in allen Gärten, auf allen Balkonen. Der Mensch blüht ebenfalls auf, wie alle Blumen ringsherum. Ich bin vollauf begeistert, wie fröhlich die Menschen erscheinen.

Und der miesepetrige April hat das Weite gesucht. Ist mit Sack (Nebel) und Pack (Regen und Schnee) ohne seine Hinterlassenschaft verschwunden.

Natürlich, mit einigen müden »Fisimatenten« versuchte er ja noch, uns den Frühling zu vermiesen. (musste er wahrscheinlich von Amts wegen) mit irgendwelchen Aktionen in allen Harz-Orten liess man die sogenannte Tradition hochleben. Kläglicher Versuch übrigens, ging meist voll daneben, nur einige ganz Verwegene feierten diese »Walpurgis-Spinnereien« mit. (Es gibt ja nix, was man nicht feiern kann …)

Bei mir bleibt noch eine bittere Frage offen:

Wie kann man das Elend und die Not der etwa 10.000 Frauen und Männer feiern, die bei dem sogenannten »Hexenglauben« unschuldig ihr Leben einbüssten?

Müssen wir noch lange warten, bis wir den Hamas-Überfall auf Israel oder den »Putinschen Feldzug« als Freiheitskampf feiern dürfen?

Ich frag ja nur ...

28.4.24

Carpe Diem

 
















 


Till Eulenspiegel in Mölln


Leise klopft der Regen gegen das Fenster. Die eigene Einsamkeit zählt ihre Sekunden, langsam klopft auch der Sekundenzeiger die Zeit weg. Tick-Tack-Tick-Tack. Ist jemand bereit, sie aufzuhalten? Niemand kann die Zeit anhalten. Warum sie nicht einfach stoppen? Halt, und jetzt bitte rückwärts?

       Aber die Zeit vergeht. Langsam, schnell, je nachdem, wie man es fühlt. Wie man sich fühlt. Wartest du, werden die Sekunden zu Stunden. Befindest du dich mitten in einem Ablauf, werden Stunden zu Sekunden. Die Zeit vergeht, Zeit, die wir niemals wieder zurückbekommen. Vorbei, vergangen, ausgelöscht? Was bleibt von dieser Zeit? Nur Gedanken, Erinnerungen? Zeit, welch ein wunderbares Wort ist dieser Substantiv! Wie viel Erwartung liegt darin, welche Hoffnung vermittelt dieser Ausdruck für das Leben.

       Wir möchten viel Zeit haben! Ist so etwas nicht ein gewaltiger Moment des Glücks? Das bedeutet doch: Ich muss mich nicht beeilen, ich kann alles in der Form machen, in der Ruhe fertig bringen, wie ich es für richtig halte? Ich habe Zeit! Ich habe Glück, denn ich habe Zeit, Unmengen von Zeit! Aber welch eine Drohung kann dieses Wort »Zeit« beinhalten. Vier Buchstaben, die Angst machen, die das Herz schneller schlagen lassen:

    Ich habe keine Zeit mehr! Spürst du die Eiseskälte, die dahinter steckt? Wie eine stählerne Wand steht dieser direkte Ausdruck vor dir, hinter dir. Überall ist sie im Raum vorhanden. Das Schlimmste dabei: Du kannst ihr nicht ausweichen, diese Drohung lässt dich einfach nicht mehr aus ihren Fängen! »Ich habe keine Zeit mehr«.

       Da drängt dich jemand zu etwas, das du im Grunde deines Herzens gar nicht willst. Du möchtest die Hände in den Schoss legen, aber jemand verhindert das. Warum? Weil du keine Zeit mehr hast? Vielleicht hast du sie ja vertrieben, durch irgendeinen »Zeitvertreib«? Und nun ist sie weg, deine Zeit.

       Nein, nein, noch ist sie da, du hast noch genügend Platz, hast noch Spielraum, um sie zu würdigen, deine Zeit! Nütze sie. Die Zeit, die wir bekommen haben, ist unsere Zeit. Unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft! Alles im Leben wird von unserer Zeit abgezogen. Jede Sekunde, Minute, Stunde. Deshalb ist es so wichtig, diese Augenblicke zurück zu verfolgen, weil sie zu unserer Zeit gehören, diese Gedanken und Erinnerungen.

       Sie ist vergangen, kommt nie mehr zurück, aber wir können uns daran erinnern, an diese Zeit! Auch wenn ich darüber schreibe, ist dies nur ein Tropfen, der auf einem heißen Stein sofort wieder verdampft. Und dennoch: Wir sollten behutsam mit unserer Zeit umgehen, denn mehr als wir heute haben, werden wir nie wieder bekommen!

27.4.24

Zurück zum Anfang?

 





















Wer hat nicht schon von der Zeit geschwärmt, als Heimat noch ein Begriff war, den man ohne Einschränkung als sein eigenes Paradies ansehen konnte? Doch dieser Ort der Träume, zu dem man gern zurückkehren möchte, existiert nicht, weil man selbst nicht mehr derselbe ist, der man einmal war. Das, was man Normalität nennt, ist letztlich nur eine Erinnerung, vielleicht sogar nur eine Utopie.

        Es kann nicht darum gehen, einfach zurück zu wandern in heimliche Sphären kindlicher Illusionen, sondern etwas Neues zu beginnen. Die Erinnerung an gestern wird nur noch mehr Verletzungen erzeugen. Die Zukunft kann nicht darin bestehen, in die Vergangenheit zurückzukehren. Jeder Versuch, dorthin zurückzukehren, kann nur ein Hirngespinst sein

      Wer darauf beharren will, das Leben so weiterzuführen, wie man es früher kannte,begeht einen Fehler, der aus Naivität entsteht. Niemand kann jemals versuchen, dorthin zurückzukehren, wo man in früheren Tagen glücklich war.

      Es wird stets diejenigen geben, die nicht mehr da sind, oder diejenigen, die sich so sehr verändert haben, dass man sie nicht wiedererkennt. Dann sieht man noch die Menschen, die zunächst so tun, als würden sie sich freuen, einen für eine Weile zu sehen, und diejenigen, die einen vergessen haben, ohne sich gross anstrengen zu müssen.

    Aber es spielt keine Rolle, dass dieser Ort nicht mehr derselbe ist, oder dass es fast niemanden mehr von früher gibt, oder dass er sich verändert hat. Ich möchte einfach nicht zur Normalität zurückkehren; ich möchte in einem neuem Zuhause leben, in dem ich mich wohlfühlen kann, umgeben von den Menschen, die mich begleitet haben, von denen, die ohne Ansprüche auf mich gewartet haben.

        Ich werde dort auch auf dich warten, lieber Mitmensch, der du dies liest. Denn wenn du verstehst, dass ein Weg in das »früher« nicht die Lösung für Probleme sein kann, bist du des vollkommenen Lebens ein Stückchen näher gerückt!

 

25.4.24

Auch mal schweigen?

 











 

Nicht alle Dinge in der Welt sind so ernst, wie wir sie auffassen. Die Welt wäre besser, wenn wir etwas mehr Sinn für Humor hätten. Überall sieht man nur verkrampft dreinblickende Menschen auf der Strasse, fast nie ein Lächeln, kaum ein paar nette Worte, selten ein Dankeschön. Glauben wir denn, dass das, was wir tun, überaus wichtig ist? Dass die Ordnung des Universums davon abhängt, dass wir unsere Tätigkeit gewissenhaft erfüllen? Dass alles warten kann, bis wir getan haben, was wir sollten?

        Wir sorgen uns darum, dass alles schriftlich festgehalten wird, wir versuchen, andere mit unserer Genauigkeit zu beeindrucken. Leider vernachlässigen wir dann auf alarmierende Weise unsere Zuneigungen, menschlichen Beziehungen und täglichen Freuden im Austausch für ein gutes finanzielles Einkommen.

        Prahlen wir nicht gern mit unseren Verdiensten, die uns das Gefühl geben, so unendlich wichtig zu sein? Im Geheimen verachten wir doch diejenigen, die durch unproduktive Beschäftigungen abgelenkt werden, blicken dann auf diejenigen herab, die uns nicht ebenbürtig sind, weil sie ihre Zeit mit flüchtigen Vergnügungen verschwenden! Oder auf diejenigen, die das Leben nehmen, als wäre es ein Spiel, ohne zu wissen, dass es die Wirklichkeit ist.

        Wer begründet seine eigene Einstellung zum Leben mit einer Formel, die kein Klischee ist? Es scheint mir, dass alles, was wir selbst tun, richtig zu sein scheint. Gibt es denn keinen Menschen, der mir eine Faustregel an die Hand gibt, mit der ich den rechten Blickwinkel sehen kann? Anscheinend ist es nicht realisierbar, weil jeweils die eigene Meinung wichtig erscheint.

         So ist es im Grunde völlig gleich, ob ich etwas zu einem Thema sage oder schweige! Irgendjemand hat wiederum seine Meinung dazu, ob nun diese richtig ist, weiss nun ebenfalls keiner. Bleibt der Gedanke, dass es völlig gleich ist, ob richtig oder falsch: Ob reale Wirklichkeit oder Fake-News:

 »Cogito ergo sum.« sagte einst
René Descartes
 (1556-1650)

Ich denke. Also bin ich!

Das aber ist immer richtig, denke ich jedenfalls!

 

23.4.24

Wüste Gedanken

 

















Es ist schon ungewöhnlich, oftmals beim Lesen von Artikeln im ständig wachsenden »Sozial-Media-Bereich« verspüre ich ein leichtes Schwindelgefühl. Diese seltsamen Gefühle in meinem Kopf erzeugen nach einiger Zeit eine Gänsehaut. Dabei liegt es nicht nur an der schlechten Ausdrucksform der Autoren und den unmäßig vielen Rechtschreibfehlern. Auch die Schwierigkeit, die einfachsten Zeitformen zu konjugieren, kann allein nicht der Hauptgrund sein.

      Nein, in den meisten Fällen sehe ich eine endlose Ideenwüste, durch eine außergewöhnliche Apathie hervorgerufen. Ich bemühe mich immer, den betreffenden Artikel zu verstehen, ich greife dennoch mit meinen Nervenzellen meist ins Leere. Auf irgendeiner Ebene sollte ein Verständnis doch möglich sein, denke ich mir, doch es will sich mir kein Pfad erschließen.

      Kann es denn sein, das die Künstliche Intelligenz schon solchen Einfluss gewonnen hat, dass unsere Sprache, um die uns in alten Zeiten viele beneidet haben, buchstäblich den Bach heruntersegelt? Oder ist es möglich, dass die Tatsache, dass alle Beteiligten ihre Inhalte nur einen Klick entfernt auf Google haben, mit der Begeisterung für Wissen verwechseln?

      Macht die Oberflächlichkeit der meisten dieser Informationen dieselben zu einer Art kulturellem Klebstoff, ohne Neugier der Leser auf die Wahrheit oder auf eine eigene Meinung? Es gibt doch nicht nur das, was uns durch Werbung und massenhafte Infos mehr und mehr durchgekaut und durch Google und »X« bereitgestellt und aufgedrängt wird? Das wäre dann ein Armutszeugnis modernster Art!

    Schafft Google eine Generation intellektuell machtloser Bürger? Ehre sei den Kindern, die es inmitten dieses Chaos schaffen, sich selbst und die Welt um sie herum neu zu erfinden.

19.4.24

Frage ohne Antwort

 





















Es ist schon etwas Seltsames: Ich fordere ständig Antworten. Ich will den Grund für alles wissen, was mir und anderen passiert. Warum eigentlich? Als ob alles so einfach wäre. Als ob jede Wirkung einer genau definierten Ursache entspräche. Als ob jeder wüsste, warum er tut, was er tut, oder warum er es nicht tut!

Außerdem mache ich ständig den Fehler, mehr wissen zu wollen, als ich wissen muss. Aber es ist naiv zu glauben, dass es auf jede Frage eine Antwort gibt und dass die Dinge immer auf die scheinbar logischste Erklärung passen.

Mir ist klar, dass mein Verhalten selten dem entspricht, was normal erscheint. Es ist eines meiner Probleme, herauszufinden, wie ich auf jede neue Situation reagieren werde, weil meine Handlungen völlig unvorhersehbar sind, nicht nur für mein Gegenüber sondern auch für mich selbst.

Deshalb möchte ich nicht immer wieder um Antworten gebeten werden, auf die ich dann hilflos reagieren muss. Frag mich nur nicht, warum ich das getan oder vielleicht damit aufgehört habe. Ich kann meist wirklich nicht sagen, warum ich mich so oder so verhalten habe, denn ich weiß es nicht und kann es auch nicht herausfinden. 

Es gibt halt Fragen, auf die es einfach keine Antworten gibt! Und vielleicht ist es auch so besser. Denn unbeantwortete Fragen hinterlassen stets eine Lücke, die noch lange auf der Seele brennt. Schlaflose Nächte, unruhige Dialoge sind nicht unbedingt das, wonach ich mich sehne! Und besonders schlaue Antworten von Menschen, die nicht mehr wissen als ich selbst, sind mir ein Gräuel.

Fazit? Nicht alles, was man wissen könnte, ist es auch wert, gewusst zu werden! Es ist zwar nicht gesagt dass man ruhiger lebt, aber vielleicht bietet mehr Unbefangenheit ein zufriedenes Dasein?

 

16.4.24

Bindungen

 


 










Jeder von uns, ob jung oder alt, hat seine physischen oder mentalen Verbindungen zu Umständen aus der eigenen Vergangenheit. Ob positiv oder traumatisch, ob traurig oder fröhlich, immer geht es um Ereignisse, die uns auf die eine oder andere Weise geprägt haben. Bindungen aus der Vergangenheit können viele oder wenige sein, wir tragen mehr mit uns herum, als wir eigentlich ertragen können! Wir möchten uns sicher von vielen dieser Bindungen lösen, finden aber meist keinen Weg aus diesem Dilemma.

       Auf die eine oder andere Weise lassen wir zu, dass die Vergangenheit stets zu uns zurückkehrt oder in unseren Gedanken präsent ist. Es ist häufig möglich, dass die Vergangenheit oft innere Ängste hervorruft, die uns daran hindern, unsere Gefühle zu verbessern. Emotional oder in unserem täglichen Leben passiert das alles immer dann, wenn wir uns immer wieder auf das Gleiche konzentrieren müssen, als ob wir keinen Ausweg aus dem finden, was bereits von selbst zu einem Problem geworden ist.

       Es sind die »inneren Ängste« vor dem, was wir befürchten, und wir leben mit der Paranoia, dass etwas Schlimmes passieren könnte, obwohl das Leben seinen Lauf nimmt. Wir bestehen dann darauf, unsere inneren Ängste aufrechtzuerhalten, wir nähren das Gute und das Schlechte in unseren Gedanken, So bleiben sowohl die Bindungen der Vergangenheit als auch unsere inneren Ängste bestehen, solange wir sie in unseren Gedanken zulassen. Wir sollen immer daran denken: Glückliche Momente, die einen positiven Unterschied in unserem Leben gemacht haben, sind es wert, mit unseren Gedanken „gefüttert“ zu werden.

        Alle anderen Zeitläufe, die zur Belastung beitragen, müssen in den fernen Erinnerungsschichten verborgen bleiben, weil sie dazu beitragen, uns zu belasten. Was bringt es schon, wieder und wieder in alten Truhen zu forschen? Staub wird aufgewirbelt, der nichts zur Gegenwart beitragen kann ...

12.4.24

Die Schubladen

 


 












Da steht er nun. Ein alter Sekretär, relativ antik, buchenlook, mehrfach aufgearbeitet. Ein ganz tolles Möbelstück, bestimmt älter als ich selbst. Ich sah ihn damals einsam an der Strasse stehen, auf den Sperrmüll wartend. Es liess mir keine Ruhe, ich musste ihn einfach haben und nun steht er bei mir in der Diele. Jeden Morgen strahlt er mich an, es ist einfach eine Freude, diese alte Kommode zu sehen, ich vermute manches mal, dass dieser Sekretär sich genau so freut, wenn er mich sieht.

Das Interessanteste an ihm sind die vielen Schubladen. Es sind zwölf an der Zahl, acht kleine und vier grosse. Anfangs dachte ich im Stillen daran, dass dort irgendwelche Fundstücke zu entdecken wären, leider wurde ich da enttäuscht. Ausser einigen alten Zeitungen von 1934, die dort als Bodenbelag dienten, gab es nichts zu entdecken. Aber auch diese erzählten mir sehr viel über die Zeit, als ich noch als Baby in der buchstäblichen Wiege auf meine Zukunft wartete.

Schubladen wecken stets in mir ein kindliches Bedürfnis, irgendwelche Geheimnisse zu erforschen. Wo aber fange ich hier an? Welche Schublade öffne ich zuerst? Sie sehen alle so ähnlich aus. Nehme ich die erste oder die letzte? Nehme ich die letzte, wird sie die die erste sein. Wenn ich aber die erste nehme, bleibt alles beim alten. Ich könnte natürlich auch die vierte oder sechste nehmen - aber, von woher zähle ich jetzt, von links oder von rechts? Ist das jetzt ein Schritt zur Weisheit? Gibt es die weise Erkenntnis in der Mitte oder eher an den Seiten? Es ist schon so, eine unbekannte Schublade zu öffnen bleibt schon ein Erlebnis.

Ich könnte die kleine dort ganz am Ende zuerst öffnen. Ist das vielleicht die Schublade der Vergangenheit? Die wollte ich eigentlich gar nicht. Dort die zweite, das könnte die der Freude sein. Gut. Wenn ich das so bedenke, sie könnte aber auch die Traurigkeit beinhalten. Also ich muss mich endlich mal entscheiden. Ich nehme einfach die grösste Schublade dort unten, fertig. Das ist die, in dem die alte Zeitung den Boden bedeckt. Ich lese auf diesem altersgebräunten Papier








Das steht also in der »Ostpommerschen Zeitung« in der Ausgabe des 28.Januar 1934. Ich staune. Da war die SPD noch eine Partei, die gegen die braunen Horden auftrat - auch wenn das nicht mehr viel nützte.

Da, die kleine Eckschublade ganz links ziehe ich ganz leise und behutsam heraus. Auch dort eine Papiereinlage auf dem Boden. Ein Bild in groben Rastern aus einer Zeitung, dann ein Text von 1934

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Soso, denke ich, es gab sie also auch in anderen Ländern, diese KLs. Ja, solch alte Schubladen bringen doch manches zutage, von dem man nichts wusste.

Noch einige Schubladen ziehe ich auf, manche leer, in einer eine alte Blechdose mit dem Aufdruck »Ich hab’s, URBIN!«. War damals die Schuhcrememarke in Deutschland.

Nachdenklich schaue ich mir das alte Möbelstück an. Wie viel persönliche Schicksale waren wohl schon mit ihm verknüpft, wer alles hat diese Schubfächer tausend und mehr Male geöffnet. Ich komme ins Grübeln, aber all das Denken bringt mich nicht weiter, weil mir die Verbindung zu den speziellen Menschen halt fehlt. So werde ich diesen alten Sekretär auch weiterhin als ein exotisches Stück Vergangenheit betrachten, der mir zwar einige Anhaltspunkte gab, dann jedoch nur noch ein wissendes Lächeln für mich übrig hatte!

11.4.24

Die Stille in uns

 














Als er in der Frühe zu ihr kommt, hat der morgendliche Ablauf schon seinen Anfang genommen. Wie jeden Morgen singt Maria mit ihrer wunderschönen glockenhellen Stimme ihr Lied und die Menschen im Speisesaal hören ihr begeistert zu. Alle Schwestern und Patienten kennen dieses eintönige, unharmonische Lied, es beginnt und endet immer mit dem gleichen Ton. Dieser Ton verklingt zwar schnell, ist jedoch unterschwellig immer hörbar, ohne dass ein Nachhall die Resonanz stört. Irgendwann wird der letzte Ton zum Schweigen gebracht, ist nun nach zahllosen Wiederholungen unhörbar geworden. Dann tritt für lange Zeit eine Stille ein. Eine erbarmungslose Stille, sie eroberte den Raum sehr schnell wieder zurück.

        Maria verbeugt sich nach allen Seiten, wirft hier und da eine Kusshand in den Saal und setzt sich dann an ihren Frühstückstisch. Dann schweigt sie. Es ist, als wäre der Stundenschlag der Glocke verhallt und ruhte sich nun aus für den nächsten Auftritt. Die wunderschönen blauen Augen der Frau leuchteten früher stets in leidenschaftlichem Glanz, jetzt sind sie stumpf geworden, blicken rastlos im Raum umher. Ihre ziellosen Blicke verursachen ein Chaos in seinen Gedanken.  

      Sie schaut ihn an, aber sie sieht ihn nicht. Sie erzählt etwas und weiss doch nicht, was sie sagt. Sie sitzt vor ihrem Teller und kann allein nichts damit anfangen. »Mutti« nennt sie die Nachtschwester und erzählt ihr, dass ihr Bruder sie geschlagen hätte. Ihre Worte sind keine Sätze mehr, nur halb verständliches Kauderwelsch.

       Jeder dieser emotionale Momente bringt seine Gedanken ins Ungleichgewicht, baut sich zeitweilig auf zur Aggression, um kurz darauf in eine tiefe Mitleidsphase zu versinken. Er will mit ihr zusammen sein, ja, aber er kann sie nicht mehr erreichen. Sie lächelt ihn an, ein leeres Lächeln, das nichts weiter bedeutet. Er versucht daraufhin, ihr etwas Liebes zu sagen, sie versteht es nicht, nickt nur mehrmals heftig mit dem Kopf. Ihr Blick verrät ihm, dass sie nichts verstanden hat.

       Trauer macht sich in seinem Gemüt breit, wie stets in solchen Situationen drückt sie sein eigenes Ego völlig an den Rand des Daseins. Maria ist nicht mehr seine Maria und doch ist sie seine Frau, die er so sehr geliebt hat und immer noch liebt. Er wünscht sich nichts mehr, als in ihre Welt eindringen zu können, sie zu verstehen, wie er sie in all den Jahren ihres Zusammenseins immer verstanden hat. Doch sie ist ihm entglitten, ist nur mehr eine leere Hülle, ihre Seele hat sie schon längst verlassen. Er muss einfach akzeptieren, dass ihrer beider Herzen nicht mehr im gleichen Takt schlagen, sondern getrennt voneinander in verschiedenen Existenzen leben.

    Welch eine Wahrheit, welch eine unselige Gewissheit wird hier offenbar. Wie weit reicht Liebe? Kann sie den Tod überdauern? Vielleicht. Kann sie aber einem Leben so viel Energie schenken, dass sie auch weiterhin, trotz einseitiger Zuwendung, bestehen bleibt? Fragen, die kaum jemand beantworten kann.
     Maria ist seine Frau. Gewiss. Aber sie ist ein anderer Mensch. Er liebt sie auch weiterhin, aber er liebt einen Menschen, der einmal war und nun nicht mehr der Gleiche ist, nie mehr sein wird. Um diese Diskrepanz zu begreifen, wird er noch lange Zeit brauchen. Diese frühere Zeit ist auch nicht mehr rückholbar, damit muss er leben. Dieses Leben, sein eigenes Leben in der Zukunft aber wird bedeutend schwerer sein als das Leben seiner Frau, deren Gedanken im Nirgendwo ihre Heimat gefunden haben!

 

 

10.4.24

Wer war denn dieser Angelo?

 

 


















Einige Jahre her, in der CORONA-Zeit.

Da steht er nun. Schaut mich treuherzig mit wasserblauen Augen an. Sein verwilderter grauer Vollbart lässt ihn nicht unbedingt vertrauenerweckend aussehen. Der uralte schmutzig-graue Mantel reicht fast bis auf die  Stiefel, die anscheinend völlig neu sind. Über die Schulter gehängt, ein abgeschabter Rucksack; Kordeln ersetzen die Riemen, die ursprünglich vorhanden waren. Sicher enthält er die Habseligkeiten des Mannes. Seine Hände mit den schwarzen Rändern unter den Fingernägeln stecken in alten Fahrradhandschuhen.

Als er heute an diesem regnerischen Abend am Bahnhof schnurgerade auf mich zukommt, will ich eigentlich schnell verschwinden. Hab ich doch selbst genügend Probleme, muss ich mich noch mit denen anderer Menschen befassen? Aber wie auch immer - ich bin wie gelähmt, etwas in mir weigert sich, meinen Gedankengängen zu folgen.

Unruhig drehen die Finger des alten Mannes an einer Schnur seines Rucksacks. Er schaute mich nur sekundenschnell an, dann irren seine Blicke wieder über den Bahnhofsvorplatz, der im spiegelnden Glanz der bunten Lichter ein werbewirksames Abbild der Osterzeit  darstellte. Der Mann reißt plötzlich seine zerschlissene Baseballkappe vom Kopf und spricht mich leise an.
»Entschuldigen Sie«, sagt er in einer warmen Tonlage, die mich irritiert, »Haben Sie vielleicht eine Maske für mich?«

Ich bin so verwirrt, dass ich zunächst nichts erwidern kann, »Verzeihen Sie«, sagt er dann, »Ich wollte Sie nicht belästigen.« Damit dreht er sich um und will weitergehen.

»Nein, warten Sie«, rufe ich, »So ist das nicht gemeint. ich bin nur überrascht!« Ich lächele ihn an. »Ich habe solch einen Wunsch natürlich nicht erwartet, normalerweise ... «

»Ja, ich weiß, es käme wohl die uralte Frage eines ›Berbers: ›Haste mal ´nen Euro?‹ - nicht wahr?« Ich nicke beschämt.

»Hm- so ähnlich wohl. Ist ja auch ungewöhnlich, meinen Sie nicht auch?«

Er schmunzelt. »Ich denke, das ist heute schon normal, oder?« Ich nicke, krame dann in meiner Umhängetasche, ich muss doch noch einige Einmal-Masken bei mir haben. Tatsächlich, da ist noch solch ein Fünfer-Päckchen, ich reiche sie dem Mann zusammen mit einem 10-Euro-Schein. Er ergreift diese kleine Gabe, meint dann, indem er mich mit einem langen Blick ansieht: »Ich habe nicht um Geld gebeten, aber danke trotzdem! Aber ich muss Ihnen noch sagen, wozu ich die Maske brauche! Ich kann einen Bäckerladen nicht ohne Maske betreten. Das ist genauso bitter, als wenn ich kein Geld habe!« 

Er zuckt mit den Schultern. Dann jedoch strahlt er mich an: »Angelo wünscht Ihnen und Ihrer Familie frohe Ostertage!« Er verneigt sich leicht vor mir - ein ungewohntes Bild, wie einem Märchenbuch entsprungen, es fehlt nur das Glitzern der Reklame. Dann fragte er leise, aber eindringlich: »Kann ICH etwas für SIE tun?«

Ich weiß keine Antwort darauf. Dann ein Wink mit seiner freien Hand - und ebenso plötzlich, wie er erschienen ist, taucht er in der Menge der Passanten auf dem Bahnhofsvorplatz unter.

Lange sinniere ich noch über diese Begegnung. Wer war bloß dieser Angelo?

 

9.4.24

Braun ist keine Farbe.

 


 










Ist es nicht schön, dieses Blau des Meeres, das sich mit den Farbtönen des azurblauen Himmels paart? Ich liebe diese morgendliche Stimmung, wenn die Möwen die einzigen Gäste sind, die über dem weißen Sandstrand ihre Kreise ziehen. Die dunkelgrünen Föhren über den Dünen bilden einen harten Kontrast zu den filigranen Federwölkchen, die hoch droben dahingleiten. Es ist ein romantischer Anblick, an dem ich mich täglich neu erfreue.

        Jetzt, um sechs Uhr morgens, bin ich noch voll aufnahmefähig für all die schönen Dinge, die mir dieser Urlaubstag aufzeigen möchte. Später dann, wenn die Sonne auf ihrer Bahn fast senkrecht über dem Strand steht, lenkt ihre übermäßige Wärme mein Denken in ziemlich utopische Gefilde von angenehmer Kühle und erfrischenden Winden.

        Mit aufgekrempelten Hosenbeinen, die Sandalen in der Hand und einen zerfledderten Strohhut auf dem Kopf, wandere ich vom Molenkopf des Hafens immer weiter den Strand entlang; ohne bestimmtes Ziel versuche ich der blassblauen Küstenlinie entlang nach Osten zu folgen. Ich mag diese Ziellosigkeit, weil sie einen Kontrast zum Berufsalltag bildet, der eine völlige Gegensätzlichkeit beinhaltet. All das habe abgehakt. Ich bin der Meinung, wer fünfundvierzig Jahre im Beruf tagtäglich in einem strengen Prozess eingebunden war, darf sich nach der Pensionierung wirklich frei fühlen.

     Die Hafenmole liegt schon weit hinter mir, der wunderschöne weiße Sandstrand ist inzwischen grobem Kiesstrand gewichen. Hier läuft es sich barfuß nicht mehr so gut. Aber wozu habe ich meine Sandalen, schließlich bin ich keine Seeschwalbe, die hier ständig auf- und ablaufen kann, ohne sich die Zehen zu stoßen. Ein Blick zurück - oha, bin doch schon länger unterwegs, als ich eigentlich vorhatte. Ich beschließe, meinen Rückweg nun oben am Rand der Dünen unter den hohen Föhren fortzusetzen.

     Gar nicht so einfach, die Dünen zu erklimmen! Da es ziemlich steil hinaufgeht, brauche ich für drei Schritte aufwärts immer einen, den ich wieder zurückgleite. Aber irgendwann ist dann die Oberkante der Düne erreicht. Welch ein herrlicher Ausblick bietet sich hier! Der breite Kiesstrand umsäumt die tiefblaue Ostsee, deren grenzenlos erscheinende Weite im Sonnenglast des Horizonts versinkt. Man ahnt dort wohl ein Ende, kann es aber mit eigenen Sinnen nicht erreichen. Fast eine Viertelstunde widme ich mich diesen Eindrücken, bevor ich mich wieder in Richtung Hafen aufmache. Ein schmaler, aber guter Pfad im Schatten der Föhren erleichtert mir den Weg zurück.Ich summe ein Liedchen vor mich hin, eine alte Melodie, die ich als Kind schon oft hörte. Wie lange ist das her? Siebzig, fünfundsiebzig Jahre?
»… dazwischen trocknen im Sonnenglanz, die Netze der Fischer am Strande …«

  Nun, von Fischernetzen ist hier nichts zu sehen, Fischfang ist wohl nicht mehr der Haupterwerbszweig, denke ich bei mir. Heute ist die Tourismus-Industrie wohl an dessen Stelle getreten. Der Sandstrand auf den zwei Kilometern nahe des Hafens ist in der Hauptsaison gewiss voll mit Menschen. Es gibt dann sicher keinen Quadratmeter des Strandes mehr, der ohne Gäste wäre. Ist wohl überall gleich, denke ich, ob auf Teneriffa, den Balearen oder eben hier an der pommerschen Ostseeküste.

      Ich wandere langsam auf dem schmalen Pfad weiter, mein Blick haftet dabei auf der Ostsee, deren Horizont fern im Blau des Himmels verschwimmt. Meine Gedanken sind dabei rückwärts gerichtet in die eigene Vergangenheit. Wie oft bin ich damals hier mit Eltern und Großeltern entlanggegangen! Ich mochte diesen Weg überhaupt nicht, er war mir zu ›langweilig‹! Viel lieber lief ich unten an der Wasserlinie entlang, dort fand ich immer interessante Dinge, die mich begeisterten. Muscheln, Seetang, Korken von Fischernetzen und oftmals auch kleine Stücke vom Bernstein, die das Meer angespült hatte.

    Leider hatten solche Ausflüge für einen wie mich, den achtjährigen Jungen, Seltenheitswert. Zumal der Weg bis zum Strand ohne Fahrgelegenheit immerhin vier Stunden gedauert hätte. Das aber wurde mir natürlich verboten! Dieses Verbot war natürlich voll in Ordnung. Aber - für einen Jungen mit einer enormen Abenteuerlust im Kopf, ebenso natürlich unverständlich.

     Ich fahre aus meinen Gedanken hoch! Dort vorn - was oder - wer war das? Im Näher gehen sehe ich einen alten Mann auf einem Hocker sitzen, vor sich eine Staffelei. Ich gehe leise näher und grüße: »Dzień dobry, proszę pana!« Er dreht sich zu mir um, sieht mich mit einem langen Blick an. Sagt zunächst kein Wort, legt dann aber den Pinsel, den er in der Hand hält, an der Staffelei ab und meint schließlich: »Sie können Deutsch mit mir reden. Es ist meine Muttersprache!«

     »Woher wissen Sie, dass ich ...« Er unterbricht mich: »Dreiviertel aller Touristen sind hier Deutsche. Und Sie, Sie sehen so deutsch aus!« Er lächelt dabei, weist mit der Hand auf einen Baumstumpf neben sich, »habe leider keinen besseren Platz für Sie!«

      Ich setze mich neben ihn. Er scheint etwa in meinem Alter zu sein, sein zerfurchtes Gesicht aber lässt ihn älter erscheinen. Er trägt helle Bermudas und ein kariertes Hemd, dazu einen alten Hut mit breitem Rand. So ähnlich hatte ich mir früher immer den großen Maler ›van Gogh vorgestellt‹. »Na«, sagt er dann, »haben Sie mich nun eintaxiert? Ist Ihnen der Herr Heymann koscher genug?« Er lacht auf. »Entschuldigen Sie, das Wort kennen Sie in Deutschland wohl nicht mehr, nicht?

  Mir ist zunächst etwas unbehaglich zumute, doch das vergeht dann schnell. »Sie irren sich«, sage ich, »ich habe nichts gegen jüdische oder jiddische Ausdrücke. Und ich kenne viele davon. Meine Großmutter hatte mir die in meiner Kinderzeit beigebracht. Obwohl die damals verboten waren und streng bestraft wurden!«

        Er mustert mich plötzlich aufmerksam von der Seite. Ich scheine in seinen wachen hellen Augen bestanden zu haben. »Würden Sie mir sagen, welcher Jahrgang Sie sind?« Er fragt es mit einem leisen Unterton.

       Ich lache kurz auf. »Guilty or not guilty?«
Ich schüttle meinen Kopf, »Nein, Herr Heymann, Sie irren sich. Ich war bei Kriegsende gerade Elf!« Er nickt. »Genau wie ich!« sagt er dann. Dann wird seine Stimme, die bisher nur halblaut gesprochen hatte, lauter: »Nein, nein, Sie missverstehen mich. So war es nicht gemeint. Wie käme ich dazu, Sie anklagen zu wollen. Wir waren Kinder. Ich wurde ›weggeführt‹ und Sie wurden ›verführt‹. So hatte jeder sein Schicksal!«

        Wir schweigen lange Zeit. Er nimmt seinen Pinsel und setzt wieder ein paar Striche und Farbtupfer auf seine Leinwand, die ein fast fertiges Seestück darstellt. 
»Ein wunderschönes Bild«, sage ich ein wenig beklommen, »es zeigt die Natur in all ihrer Schönheit.« Er sieht mich an, sein Blick scheint in die Ferne zu wandern und gleichzeitig bei mir zu sein. »Ich kann die Natur nur so darstellen, wie ich sie sehe. Ich sehe sie so. Ich sah sie schon immer so. Fällt Ihnen etwas auf an diesem Bild?«

Ich stutze. Was sollte das sein? Ich bin kein Kunstkenner. Dann dreht er die Staffelei ein wenig zu mir herum, ich kann nun sein Werk besser betrachten. Es dauert eine ganze Weile, bis ich dahinter komme, was er meint!

    Alle natürlichen Farbtöne haben ihren Platz auf diesem Gemälde erhalten, es ist wirklich ein Genuss, dieses Bild anzuschauen. Dann jedoch sehe ich, was er mir zeigen will: Nicht der geringste Ton einer ›braunen‹ Farbe ist dort vorhanden. Es scheint, als wenn diese Farbe auf seiner Palette überhaupt nicht existiert!

   Verwirrt schaue ich ihn an. Er lächelt, auf eine geheimnisvolle Art, die mich voll in ihren Bann zieht. Er legt den Pinsel wieder weg, nimmt seinen Hut ab und wischt sich mit einem Tuch über das schüttere weiße Haar. »Sie haben es entdeckt, nicht wahr? Es sind nicht viele Menschen, die das sehen! Warum? Weil Braun keine Farbe ist!«
    »Wissen Sie«, sagt er dann, indem er den Kopf wieder bedeckt, »ich weiss nicht warum, aber ich mag Sie! Vielleicht, weil wir gleichen Alters sind? Oder weil wir beide Erfahrungen hatten, die zwar diametral gegenüberliegen, die uns aber doch verbinden!«  Ich lächle und nicke zustimmend, hebe aber dann zweifelnd einen Finger: »Lieber Herr Heymann, da müssen Sie aber scharf aufpassen, dass Sie Rot und Grün nicht mischen!«
     Heymann lacht, er lacht lauthals, und ich kann nicht anders, ich lache mit! Wir wischen uns die Lachtränen vom Gesicht. Welch ein wundervolles Erlebnis, ein Jude und ein Goj sitzen am Ostseestrand und lachen über einen Witz, der im Grund kein Witz ist, sondern eine kleine Episode des wirklichen Lebens.

  Dann erzählt er mir aus seinem Leben, einem Leben, das so völlig anders verlief als mein eigenes. Ich glaubte immer, meine Kindheitserlebnisse waren schwer, die Flucht und Vertreibung vom pommerschen Ostseestrand; nun musste ich mit Erschrecken feststellen, dass dies Murmeln waren im Vergleich zur Größe eines Medizinballes.

    Er erzählt mir vom Vernichtungslager Bełżec in der Nähe von Lublin, in das er aus seiner Heimatstadt Danzig verschleppt wurde. Viel höre ich nicht von ihm, muss ich auch nicht, dieses Elend ist einfach nicht beschreibbar.

  Wir schweigen lange, dann erzähle ich ihm, dass es in Deutschland immer noch Menschen gibt, die diese millionenfachen Morde in den Konzentrationslagern des Hitler-Regimes einfach leugnen. Er nickt. Dann sagt er leise: »Glauben Sie, dass es hier in Polen anders ist? Hier wird nur von den Opfern gesprochen, die Polen waren! Von der Vernichtung der jüdischen Aschkenasim erfährt man höchstens nur am Rande. Es ist eine verkehrte Welt. Erst hatte ich vor, nach Israel auszuwandern. Aber was soll ich da noch? Das hätte früher geschehen müssen, aber ich habe gedacht, es würde hier alles besser werden.«

     Er lachte verbittert auf. »Also bleibt alles, wie es war. Ich mische mich nicht in die Politik ein - und die lassen mich in Ruhe«. Als ich den Mund aufmache, um etwas zu erwidern, meint er: »Ja, ich weiß, wer nichts tut, ist auch schuldig! So sind wir schließlich alle eine Generation der schuldigen Schuldlosen! Lassen wir es dabei.«
Wir verabschieden uns schließlich mit einer Umarmung. Er bittet um die Angabe meiner Anschrift, er will mir das Seebild zusenden, wenn es fertig ist. Ich gebe ihm meine Karte. Ich bekomme also dieses Bild von ihm, ein Bild, das keinerlei Brauntöne aufweist.

  Es ist jetzt drei Jahre her. Das Bild ist leider nicht angekommen. Vielleicht, weil Braun überall wieder Mode wird?

Treffen

  Gestern traf ich ihn. Zum allerersten Mal. Noch nie hatte ich ihn vorher jemals gesehen, wie sollte ich auch? Ich kannte niemand, der ihn...