10.7.24

Dann musst du eben gehen.



Mitten aus dem Leben erzählt ... 






Sonnenschattengeflecht auf dem Waldboden. Der Geruch nach feuchtem Moos und nach Nadelgehölz umschmeichelt die Sinne; in einem leisem Windhauch schwanken die hohen Buchen und Kiefern, kaum wahrnehmbar. Im Unterholz absterbende Äste lassen das »Stirb und Werde« der Natur überdeutlich werden. Ein kleiner Käfer versucht unermüdlich, einen morschen Baumstamm zu erklimmen. Vergebliche Mühe. Gero lächelt, spielt den Retter und nimmt ihn vorsichtig zwischen zwei Finger, setzt ihn auf das faulende Holz. Der kleine Kerl hat nichts Schnelleres zu tun als auf der anderen Seite wieder herabzufallen. Liegt dort auf dem Rücken und strampelt verzweifelt mit seinen Beinchen, kommt dann doch wieder in die richtige Lage und klettert eilig davon.

       Geros angestrengtes Lächeln will nicht so ganz gelingen. Wie ähneln die Bemühungen des kleinen Käfers doch seinem Leben! Carola sitzt neben ihm auf einem Baumstamm, fragend schaut sie ihn verwundert an. »Warum lächelst du?« Sie fragt irritiert, wartet. Er schweigt. Eine nichtssagende Handbewegung, der hilflose Blick zur Seite drückt seine Unsicherheit aus. Carola schaut ihn immer noch an. Er weiss, dass sie ihn nicht verstehen wird. Wie sollte das auch sein? Im letzten Jahr, seit dem schweren Unfall, hat sich ihre Beziehung immer mehr getrübt, es war nichts übrig geblieben von ihrer Liebe als eine Verbindung, die kaum über das Oberflächliche hinausging. 

       Gero wendet den Kopf, blickt lange auf die Waldlichtung hinaus, wo erste Nebelschwaden über dem kleinen Bach schweben. Dann seine Antwort: »Ach, nichts Wichtiges, ich sah nur ein paar Bilder vor mir!« Sie senkt den Kopf, sieht zu Boden, eine endlose Reihe von roten Waldameisen zieht dort zwischen Kiefernnadeln ihre Bahn. »Ach ja?«  Auf ihrer Stirn werden ein paar Falten sichtbar, er kennt das, es ist ein untrügliches Zeichen von Unmut. »Früher haben wir unsere Gedanken immer ausgetauscht«, meint sie dann, »auch scheinbar Unwichtiges kann wichtig sein. Es sind Deine Worte!« 

       Er sieht sie an. Ihr blondes Haar konkurriert mit dem Blau ihrer Augen, einige Sommersprossen, die sie selbst so hasst, geben dem schmalen Gesicht einen Touch von Kindlichkeit. Der Ohrschmuck aus Lapislazuli setzt dem Ganzen dann noch die Krone auf. Carola ist eine wirkliche Schönheit. Sie hatte ihn schon damals bezaubert, als sie noch zusammen in der Theatergruppe spielten. Und er war auch mächtig stolz, dass er derjenige war, der ihr Herz erobert hatte. Über drei Jahre ist es nun her, Jahre, die so wechselvoll waren wie meist das ganze Menschenleben auch. Freude und Glückseligkeit, Schmerzen und bittere Leiden. 

    »Wichtig. Unwichtig. Was macht das für einen Unterschied? Ändert das mein Leben? Unser Leben?« 
Er hat einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Warum heuchelt sie? Er weiss doch schon seit einigen Tagen aus einem Gespräch mit Freunden, dass sie sich von ihm trennen will. »Es ist unser letzter Tag heute, nicht wahr, Carola? Warum sagst du nicht direkt, was du meinst? Auch das ist wichtig, jedenfalls für mich!« Er spürt wieder diesen Druck auf der Brust, der ihm das Atmen schwer macht.

    »Du versinkst wieder in Selbstmitleid?« Ein wenig spöttisch klingt das schon aus ihrem Mund. Jedenfalls spürt er es so. »Nun gut, mein Freund! Ich will dir dann auch sagen, dass ich lange, sehr lange hin und her überlegt habe, was aus uns beiden wird. So geht es einfach nicht mehr. Ich brauche Leben um mich herum. Du jedenfalls ziehst dich immer mehr von allem zurück. Das meinen auch alle Freunde!« Ihre Stimme wird lauter, etwas schrill. Dann tippt sie mit dem Finger auf seine Brust: »Du denkst, es dreht sich alles nur noch um dich, ja? Bist du die Sonne? Nein, du bist nur der Mond, der sich von der Sonne bescheinen lässt! Verstehst du? Nur der Mond!«

       Verwirrt schaut er sie an. Heiss steigt es in ihm auf, seine Gefühle drehen sich unablässig im Kreise. So hat er sie noch nie erlebt. Dann sagt er leise mit heiserer Stimme: »So? Und du bist dann die Sonne, ja? Meine Sonne? Die mir das Licht gibt, ja?« Er schüttelt den Kopf, erfasst wahllos einen Zweig des Unterholzes, zerbricht ihn, wirft ihn zu Boden.
»Wie selbstgerecht du doch bist, Carola.« Sie erhebt sich, läuft erregt ein paar Schritte auf dem Waldweg entlang, kommt zurück, bleibt vor ihm stehen: »Selbstgerecht? Ich habe immer zu dir gehalten, auch in deiner schweren Zeit. Immer war ich für dich da. Aber irgendwann kann man halt nicht mehr, verstehst du? Da ist man ausgebrannt, einfach alle!«

       Er schweigt, weiss ja insgeheim, dass diese Worte der Wahrheit entsprechen. Sie hat ein Recht auf ihr eigenes Leben, er kann einfach nicht erwarten, dass sie ihm alles opferte. »Carola, ich, ich liebe dich doch!« Seine Stimme klingt rau, fast tonlos. Sie steht schweigend vor ihm, den Schein der untergehenden Sonne in ihrem Rücken, das Gesicht völlig im Schatten. Schaut ihn lange an. Dann flüstert sie mit verhaltenen Worten: »Ich glaube, ich muss jetzt gehen!«

       Fast unmerklich nickt er mit dem Kopf, schliesst fassungslos die Augen. Und wie aus unerklärlichen Sphären, aus den Wipfeln der hohen Bäume klingen Töne an sein Ohr, Takte aus Beethovens Neunter, schwellen an, brausen empor und verstummen dann mit einem Paukenschlag.

       Carola steht immer noch vor ihm, beugt sich zu ihm herab, küsst ihn auf die Stirn, streicht dann sanft mit der Hand über seine geschlossenen Augen.
»Lebewohl, Gero!« Er spürt noch lange diese kleine Berührung, plötzlich ist Beethovens Musik wieder da, machtvoll, nimmt seine ganzen Sinne gefangen, während seine Schultern zucken und die Hände zittern. Als er nach endlos langer Zeit die Augen öffnet, ist sie gegangen. Nur ein Schwarm Mücken tanzt lautlos an der Stelle, an der Carola gestanden hatte. 

       »Ja, dann musst du gehen!« Er flüstert es leise in die Stille des Abends hinein, löst die Bremsen seines Rollstuhls, rollt langsam auf dem Waldweg heimwärts, sehr kraftvoll, aber die Augen blind vor Tränen.

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4 Kommentare:

  1. eine sehr lebensnahe wunderschön erzählte traurige Geschichte - mitten aus dem Leben heraus, ja so mag es vielen - einigen - besonderen Paaren ergehen, die den Abwärtsweg des Partners nicht ertragen und miterleben möchten oder können.
    Jeder Mensch geht und das bis zum Schluss - seinen eigenen Weg. Ob der letzte allein gegangen wird oder in zweisamer Vertrautheit ist oftmals Gewohnheit, manchmal Lethargie aber zeugt auch von unendlicher Liebe, wenn es geschieht.
    jetzt hab ich doch meine Gedanken dazu geschrieben obwohl die Geschichte absolute andachtsvolle Stille wie in einer Waldkirche verdient...
    ich danke dir dafür...lieber Freund. auch dass du so innig, manchmal schwermütig/traurig schöne Geschichten schreibst.
    herzlich angel

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    1. Es ist mir ein Bedürfnis, Geschichten, die das Leben schreibt, in Texte umzusetzen. Manche mögen denken, ich würde in meinen Erinnerungen kramen? Mag sein, manches Mal geschieht dies auch. Andererseits suche ich ständig Material, um Geschehnisse in Geschichten zu verarbeiten. Es ist eine wunderschöne Sache, wenn ich so schreibe, als hätte ich es selbst erlebt!
      (Allein wenn ich Kapitel aus meinem Buch herausnehme, ist es tatsächliches Geschehen, alle anderen Erzählungen sind reine Fiktion!)
      Ich bitte um Entschuldigung, wenn es anders erscheint.
      Vielleicht liegt es an meinen Jahren?
      grübelt Horst

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  2. nein nein lieber Horst,
    ich denke..
    es kommt aus der Erfahrung dessen
    was man alles im Laufe des Lebens erlebt hat ohne es zu diesem Zeitpunkt ganz verarbeitet/oder bearbeitet zu haben.
    Wir erinnern uns ( bei Bildern, in Gesprächen, in der Rückschau und es beschäftigt uns jetzt, - da wir endlich Zeit-dazu-haben - was früher hermetisch verdrängt wurde.
    so erkläre ich es mir, ob' s stimmt?
    wer weiß--- es ist auch nicht wichtig, wichtig ist es dass es Freude macht, beides das erinnern und das schreiben darüber...es hält uns ja am Leben, nicht mehr, aber auch nicht weniger...
    ich umarm dich lieber Freund, du bist mir
    sehr wichtig...
    engelchen...

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    1. Ich sehe es so ähnlich, Engelchen.Wie sonst kämen die Gedanken fortwährend auf die Seite des Erinnerns, die man vormals verdrängt hat? Wir htten nicht genug Zeit, das alles zu verarbeiten - mag sein. Wir wollten jedoch vielleicht auch nicht zu tief in die Erinnerung tauchen, da es oft mit Schmerzen verbunden war; wer mag schon gern in diese Sphären eindringen?
      Heute? Na ja, Wenn man alles kennt, geschieht dennoch vieles, das unerklärlich scheint und trotzdem ganz einfach ist: Weil wir, wie Du sagst, LEBEN.
      Und damit sage ich Dir "Danke".
      Herzlichst,
      Horst

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Danke für die Interessante Anmerkung!

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