3.4.24

Leben, oder was?

 


 















Die Tür geht auf. Warum eigentlich? Sein Bewusstsein hat sich verändert, er weiß nicht, warum die Tür plötzlich offen steht. Doch Dietmar ist sicher, dass diese Tür sonst geschlossen ist. »Tür zu
Er schreit es hinaus auf den Flur, er brüllt es geradezu. »Ganz ruhig, Herr Michels, ich mache sie ja gleich zu, aber sie wollen doch ihren Kaffee, nicht wahr?«

       Aha, Schwester Anne, das ist okay, sie darf ihm immer etwas bringen, sogar diese gelben und rosa Pillen. Wenn sie ihm dann dazu das Wasserglas reicht, ist er von ihren Augen entzückt. Sie strahlen in einem wunderschönen Veilchenblau, es wäre wahrscheinlich eine Sünde, davon nicht hochgestimmt zu sein.

       Diese feste Regel, dass Schwester Anne den Kaffee zu den Bewohnern in die Zimmer bringt, hat sich fest in den Tagesablauf eingegliedert. Dietmar wartet meist den ganzen Nachmittag auf diese drei Minuten, wenn Schwester Anne den Kaffee bringt. Diese Zeit um Fünfzehnuhrdreissig scheint wie ein fester Block in seinen Gedanken zu liegen.

       Vielleicht ist es, weil ihre Freundlichkeit ein Höhepunkt seines Lebens ist? Viel mehr Freuden hat er eigentlich nicht. Seine Erinnerungen treiben ziellos im Fluss des Vergessens dahin, es ist ein stetes Fließen ohne jede Möglichkeit, diesen Strom zu steuern.
 Die Synapsen haben sich miteinander verknotet und so werden aus den Bruchstücken der Vergangenheit stets neue Fragmente der kurzzeitigen Zukunft. Dietmar fragt sich schon lange nicht mehr, wer er eigentlich ist. Er weiß es einfach nicht mehr! Gedankenverloren starrt er auf ein Bild, das auf dem Tisch liegt. Wer diese Menschen wohl sind, die er dort sieht, - und warum liegt das Bild da überhaupt?

       Schwester Anne reicht ihm seinen Kaffee. »Muss eine wunderschöne Reise gewesen sein«, sagt Anne. »Sie waren damals wohl auf Hochzeitsreise? Ihre Frau sieht auf dem Foto aus wie eine Schauspielerin! Das war sicher in Venedig, nicht wahr? Übrigens, sie möchte sie gern heute besuchen!«

       Dietmar sieht sie verstört an. Dann schüttelt er mit Vehemenz den Kopf. »Unmöglich. Ich war nie in Venedig. Und das ist auch nicht meine Frau. Wer soll das sein? Ich habe keine Frau! Und die da soll bleiben, wo sie ist, ich - will - sie - nicht - sehen!«

       Er nimmt das Foto noch einmal in die Hände, führt es ganz dicht vor seine Augen. Dann wirft er es zornig auf den Boden und stampft mit einem Fuß darauf herum. »Ich bin es leid, dass ihr mich immer mit fremden Frauen verkuppeln wollt. Ich brauche keine Frau. Ich kenne die überhaupt nicht und den Kerl daneben schon gar nicht«.

    »Aber nicht doch, lieber Herr Michels, das sind doch sie selbst!« Schwester Anne bleibt die Ruhe selbst, auch als Dietmars Ton harscher wird. Sie ist so etwas gewohnt. Da hilft nur stoische Ruhe. Dietmar steht nun vor ihr, wutentbrannt, zeigt dann mit der Hand auf den Flur: »Verlassen Sie mein Haus! Sofort!« Schwester Anne geht zur Tür, dann sagt sie ganz freundlich, indem sie die Tür schließt: »Ich wünsche Ihnen noch einen guten Abend, Herr Michels.«

       Auf dem Flur steht Marlene Michels an einem Fenster und schaut gedankenverloren hinab in den Hof. Die heftigen Worte im Zimmer bei der halb geöffneten Tür hat sie mitgehört, mit verweinten Augen sieht sie die Schwester an. Anne legt ihr die Hand auf die Schulter, schüttelt dann traurig ihren Kopf. »Es hat keinen Sinn«, sagt sie dann, »Ihr Mann ist weit weg, ganz weit. Er erkennt sich selbst nicht, lebt in seiner Welt, die es so gar nicht gibt. Sie müssen lernen, es zu akzeptieren. Unbedingt! Sonst zerstören Sie ihr eigenes Leben. Und das wollte ihr Mann ganz bestimmt nicht!«

Marlene schaut die Schwester an, nickt lethargisch. Ihre Schritte werden sodann unsäglich schwer, als sie zum Ausgang geht. Aber sie weiß, sie wird wiederkommen, immer und immer wieder ...

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