11.4.24

Die Stille in uns

 














Als er in der Frühe zu ihr kommt, hat der morgendliche Ablauf schon seinen Anfang genommen. Wie jeden Morgen singt Maria mit ihrer wunderschönen glockenhellen Stimme ihr Lied und die Menschen im Speisesaal hören ihr begeistert zu. Alle Schwestern und Patienten kennen dieses eintönige, unharmonische Lied, es beginnt und endet immer mit dem gleichen Ton. Dieser Ton verklingt zwar schnell, ist jedoch unterschwellig immer hörbar, ohne dass ein Nachhall die Resonanz stört. Irgendwann wird der letzte Ton zum Schweigen gebracht, ist nun nach zahllosen Wiederholungen unhörbar geworden. Dann tritt für lange Zeit eine Stille ein. Eine erbarmungslose Stille, sie eroberte den Raum sehr schnell wieder zurück.

        Maria verbeugt sich nach allen Seiten, wirft hier und da eine Kusshand in den Saal und setzt sich dann an ihren Frühstückstisch. Dann schweigt sie. Es ist, als wäre der Stundenschlag der Glocke verhallt und ruhte sich nun aus für den nächsten Auftritt. Die wunderschönen blauen Augen der Frau leuchteten früher stets in leidenschaftlichem Glanz, jetzt sind sie stumpf geworden, blicken rastlos im Raum umher. Ihre ziellosen Blicke verursachen ein Chaos in seinen Gedanken.  

      Sie schaut ihn an, aber sie sieht ihn nicht. Sie erzählt etwas und weiss doch nicht, was sie sagt. Sie sitzt vor ihrem Teller und kann allein nichts damit anfangen. »Mutti« nennt sie die Nachtschwester und erzählt ihr, dass ihr Bruder sie geschlagen hätte. Ihre Worte sind keine Sätze mehr, nur halb verständliches Kauderwelsch.

       Jeder dieser emotionale Momente bringt seine Gedanken ins Ungleichgewicht, baut sich zeitweilig auf zur Aggression, um kurz darauf in eine tiefe Mitleidsphase zu versinken. Er will mit ihr zusammen sein, ja, aber er kann sie nicht mehr erreichen. Sie lächelt ihn an, ein leeres Lächeln, das nichts weiter bedeutet. Er versucht daraufhin, ihr etwas Liebes zu sagen, sie versteht es nicht, nickt nur mehrmals heftig mit dem Kopf. Ihr Blick verrät ihm, dass sie nichts verstanden hat.

       Trauer macht sich in seinem Gemüt breit, wie stets in solchen Situationen drückt sie sein eigenes Ego völlig an den Rand des Daseins. Maria ist nicht mehr seine Maria und doch ist sie seine Frau, die er so sehr geliebt hat und immer noch liebt. Er wünscht sich nichts mehr, als in ihre Welt eindringen zu können, sie zu verstehen, wie er sie in all den Jahren ihres Zusammenseins immer verstanden hat. Doch sie ist ihm entglitten, ist nur mehr eine leere Hülle, ihre Seele hat sie schon längst verlassen. Er muss einfach akzeptieren, dass ihrer beider Herzen nicht mehr im gleichen Takt schlagen, sondern getrennt voneinander in verschiedenen Existenzen leben.

    Welch eine Wahrheit, welch eine unselige Gewissheit wird hier offenbar. Wie weit reicht Liebe? Kann sie den Tod überdauern? Vielleicht. Kann sie aber einem Leben so viel Energie schenken, dass sie auch weiterhin, trotz einseitiger Zuwendung, bestehen bleibt? Fragen, die kaum jemand beantworten kann.
     Maria ist seine Frau. Gewiss. Aber sie ist ein anderer Mensch. Er liebt sie auch weiterhin, aber er liebt einen Menschen, der einmal war und nun nicht mehr der Gleiche ist, nie mehr sein wird. Um diese Diskrepanz zu begreifen, wird er noch lange Zeit brauchen. Diese frühere Zeit ist auch nicht mehr rückholbar, damit muss er leben. Dieses Leben, sein eigenes Leben in der Zukunft aber wird bedeutend schwerer sein als das Leben seiner Frau, deren Gedanken im Nirgendwo ihre Heimat gefunden haben!

 

 

3 Kommentare:

  1. ein Leben in dem der Satz lange und nachdrücklich nachhallt..
    ein Satz der bleibt...bis zum Ende...
    " deren Gedanken im Nirgendwo ihre Heimat gefunden haben!

    irgendwie traurig und dennoch hat er etwas tröstliches...
    und Trost braucht jeder der ohne ihn zurückbleibt...
    nachdenkliche Grüße angel

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    1. Es ist leider so, dass die betroffene Person das Leid bewusst nicht mehr so ertragen muss, wie die unmittelbaren Angehörigen o.ä.
      Das, so finde ich, ist eine Gnade, die dem Kranken gewährt wird! Trost? En schweres Wort, kaum erklärbar, weil jedes Trostwort eigentlich ungesagt bleiben muss ...
      meint Horst

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  2. Anonym13.4.24

    Es berührt mich immer bis ins Herz, wenn ich solche Geschichten lese, in denen zwei Menschen langsam auseinandergleiten. Kennen Sie den autobiografischen Roman von Helga Schubert - Der heutige Tag? Dort ist von der "heiligen Zone" die Rede, die wir alle als Baby noch nicht verlassen haben, die wir aber mehr oder weniger nahe am Tode wieder betreten. Das Buch von Frau Schubert ist sehr empfehlenswert, vor allem , wenn man selbst betroffen ist. Hier gibt es eine Beschreibung: https://www.weltbild.de/artikel/buch/der-heutige-tag_39299141-1#product-description Ihr Blog gefällt mir übrigens sehr gut! Herzliche Grüße, Ulrike Nikolai (ich kam durch den Seniorentreff hierher)

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[B]Danke, bis bald [b/]

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